… as we dream …

Eine große Zahl von zeitgenössischen Malern arbeitet heute an der Schnittstelle von Abstraktion und Gegenständlichkeit. Es scheint fast so, als würde die Potentialität dieser Transition bedeutsamer sein, als die Identifikation mit einer spezifischen Position. Die beiden Ausdrucksmöglichkeiten werden nicht mehr als unvereinbare Gegensätze eines ideologisch determinierten Antagonismus aufgefasst, sondern selbstverständlich und gleichwertig nebeneinander gesetzt. Die Faszination scheint für zeitgenössische Maler nicht im Entweder-Oder zu liegen, sondern im freien Spiel der Formen, in der Gegenüberstellung und Verflechtung gegensätzlicher malerischer Realitäten, in der Einbindung digitaler Bildmedien und der Einbettung in unterschiedliche kulturelle Bezugsfelder. Es handelt sich um ein Verständnis von Malerei als einer eigenständigen Wirklichkeit, die sich nicht auf die Darstellung oder Abstraktion der realen Welt beschränkt, sondern deren Impetus in dem zu finden ist, was Dario Gamboni „mögliche Bilder“ genannt hat.

Diese „möglichen Bilder“ sucht Matthias Lautner im Spannungsfeld von Abstraktion und Gegenständlichkeit durch Konfrontation und Konfluenz der divergierenden Ausdrucksmittel und durch präzise Komposition der einzelnen Elemente getragen von sinnlicher Wahrnehmung und subtiler Bilderzählung. Seine Gemälde der letzten Jahre waren geprägt von expressiv-abstrakten Szenerien, in die er realistisch gemalte Figuren in Gesten des Innehaltens und der Introspektion gestellt hat. In den neuesten Bildern hat er versucht, diese klaren Frontstellungen aufzubrechen und die Figuren nicht nur ausgewogener in das Bildgeschehen zu integrieren, sondern den abstrakten Umfeldern stärkeren Raum- bzw. Landschaftscharakter zu verleihen. Es ging ihm um die Frage, wie weit er eine Landschaft malen kann, ohne wirklich konkret zu werden.

Gerade die Verbindung von Landschaftsdarstellungen, so assoziativ sie auch sein mögen, und Figuren in Rückenansicht, evoziert natürlich eine malerische Tradition, die ihren Brennpunkt in Caspar David Friedrich findet. In der Romantik wandelt sich die Natur als Landschaft vom bloßen Hintergrund zu einer eigenständigen Ausdrucksmöglichkeit, zu einer Welt der Erscheinungen, in der und hinter der sich das Unendliche und Unfassbare andeutet, um doch nicht näher spezifizierbar zu werden. Es geht nicht darum, visuelle Erscheinungsformen detailgetreu festzuhalten, sondern um die Vermittlung von Eindrücken. So war die Landschaft in der Romantik stets ein Erkenntnismittel zum Ich, jedoch niemals ein Erkenntnisgegenstand per se.

Es war Alexander Cozens, der mit seinem „blot2-Verfahren das Ende der traditionellen Landschaftsmalerei eingeläutet hat, indem er den Realitätsbezug aus der Landschaftsmalerei entkoppelt hat. Unter einem „blot“ verstand er eine Ansammlung von dunklen Formen und Massen, die mit Tinte absichtslos auf ein Blatt Papier geworfen wurden und die abstrakt sein, aber gleichermaßen auch eine Landschaft darstellen konnten. Cozens war nicht mehr an der Natur als einer vorgefundenen Dingwelt interessiert (natura naturata), sondern an einer Natur, die sich in einem ständigen Schöpfungsprozess begreift (natura naturans). In einem ersten Schritt wurden also einer groben Idee folgend „blots“ aufs Papier gesetzt, aus denen sich kraft der Erinnerung vor dem Auge das Bild einer Landschaft herausschälte. Ausgehend von Cozens ist nicht mehr die vorgefundene, reale Landschaft Gegenstand der Malerei, sie wird vielmehr zu einer Metapher der Künstler, mit deren Hilfe sie gerade jene schwer zu fassenden Erfahrungs- und Erlebnisqualitäten darzustellen suchen, die sich einer konkreten Form oder Begrifflichkeit entziehen. „Die Landschaftsmalerei wird zu einer vielfältigen Projektionsfläche.“

Matthias Lautner hat die abstrakten Szenerien seiner Bilder aus derartigen ungegenständlichen Formen entwickelt. Mittlerweile leitet er sie auch aus einem konkreten Bild oder einer realen Stimmung ab, um sie zu einer autonomen Struktur weiterzuspinnen, die ein verblasstes Bild, eine Erinnerung an Raum oder Landschaft in sich birgt. Es handelt sich um Chiffren, die ein subjektives Verständnis von Raum und Landschaft enthalten und nicht mehr das illusionistische Bild, das wir uns von ihnen machen. Bei der Darstellung geht es nicht um die Wiedergabe von Natur bzw. Raum, sondern um die Imagination von Natur bzw. Raum.

Die Figuren, die er immer präziser in diesen Farbräumen verortet, wie zum Beispiel in den Bildern „Girl Reading a Letter 5“ oder „The Threat“, entnimmt er seinem digitalen Fotoarchiv, seinem Bildgedächtnis binärer Ordnung. Es ist für die Bildaussage nebensächlich, ob es sich dabei um Personen aus seinem Freundes- oder Bekanntenkreis handelt, um Schnappschüsse von der Straße oder um Fundstücke aus dem weltweiten Netz. Ihn interessiert eine bestimmte Haltung, eine Geste, die jene Stimmung aufgreift und weiterführt, die in der abstrakten Struktur bereits angelegt ist. Dabei löst er die Figuren aus ihrer Jetztzeit und ihrem jeweiligen sozio-politischen Kontext heraus und überführt sie in etwas, das man vielleicht vorsichtig „Überzeitliches“ nennen kann. Doch obwohl er seine Protagonisten aus ihrer Zeitgebundenheit extrahiert, ist die Vereinzelung, in der er sie darstellt, durchaus als Gegenwartsdiagnose zu verstehen.

Jeder Künstler entwickelt ganz persönliche Chiffren für den Zugang zur Welt, in denen sich seine subjektiven Empfindungen und Überzeugungen spiegeln. Karl Jaspers versteht unter Chiffren nun nicht verschlüsselte Symbole oder Zeichen, sondern Denkerlebnisse, die dem Menschen materiell nicht Erfassbares vermitteln. Lautners Bilder tragen, wenn man so will, seine Denkerlebnisse in sich, und da Chiffren immer auch einen gesellschaftlichen Kommunikationscode spiegeln, vermag auch der Betrachter diese Überlegungen und Analysen zumindest in Andeutungen nachzuvollziehen.

Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass Matthias Lautners Gemälde geprägt sind von antithetischen, jedoch aufeinander bezogenen Bildinhalten. Sie haben weder subjektiven Symbolcharakter, noch objektiven ikonografischen Sinn. Ihre narrativen Relationen sind subtil und erscheinen verschlüsselt. Als Chiffren evozieren sie eine Ahnung von etwas Unspezifizierbarem, das fehlt, vermisst wird. Ihre Grundstimmung ist melancholisch und erinnert an die existenzielle Einsamkeit Joseph Conrads: 

„We live, as we dream – alone …“